
Gemeinsam neue Ziele finden, damit die Seele heilen kann
Unsichtbare Wunden zu versorgen ist Teamarbeit in ganz unterschiedlichen Bereichen. Leonie Grundmann arbeitet in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina tagtäglich mit Menschen zusammen, die an einer seelischen Erkrankung leiden. Aus ihrer Sicht als Psychologische Psychotherapeutin erläutert die 30-Jährige im Interview die Bezeichnung der „unsichtbaren“ Wunden und beschreibt einige Aspekte zu deren Entstehung und Behandlung.
Wie lassen sich unsichtbare Wunden erkennen?
Unsichtbare Wunden haben sehr unterschiedliche Erscheinungsformen und sind auch nicht immer direkt als solche zu erkennen. Hinter dem Verhalten von Menschen stecken meist Motive, und diese Motive sind durch prägende Erfahrungen in der eigenen Lebensgeschichte entstanden. So kann es beispielsweise eine Wunde sein, zu befürchten, vom Gegenüber zurückgewiesen zu werden, weil man diese Erfahrung in der Vergangenheit durch wichtige Bezugspersonen – meist die Eltern – gemacht hat.
Später im Leben neigen Menschen mit diesen Erfahrungen dazu, eine mögliche Zurückweisung zu verhindern. Dies fällt dem Gegenüber dann vielleicht eher als eine ständige Rückversicherung oder Anhänglichkeit innerhalb der Beziehung auf, dabei ist es eine unsichtbare und noch nicht verheilte Wunde des Betroffenen.
Auf welche Arten von seelischen Wunden trifft man im Laufe der Therapie mit einem Patienten oder einer Patientin?
Man trifft auf alle möglichen Formen von Wunden. Es gibt so viele Arten, wie es menschliche Verhaltensweisen gibt. Das ist einerseits beängstigend, aber anderseits auch das Schöne an meinem Beruf. Mich immer wieder erneut unvoreingenommen auf die Erlebenswelt meines Gegenübers einzulassen und so die Verletzung erkennen und behandeln zu können.
Natürlich ist es möglich, Arten von Wunden zusammenfassen. Meiner Erfahrung nach geht es meistens um durch Bezugspersonen zugefügte Zurückweisung, emotionale Vernachlässigung, Entwertung oder überhöhte Leistungsansprüche. Aber auch um überhöhte emotionale Ansprüche – wenn beispielsweise Kinder Aufgaben ihrer Eltern übernehmen mussten. Außerdem können unsichtbare Wunden durch erlebte Gewalt oder andere Formen der Traumatisierung entstehen.
Wie sieht der mögliche Genesungsweg aus?
Eine pauschale Antwort gibt es hier nicht, da wie beschrieben die Art der Wunde sehr unterschiedlich sein kann und die Betroffenen selbst bei ähnlichen Symptomen unterschiedliche Wege brauchen, um wieder gesund werden zu können. Es ist deswegen unerlässlich, in einen engen persönlichen Austausch mit den Patientinnen und Patienten zu gehen. Natürlich ist es auch wichtig zu schauen, welchen Ursprung die unsichtbaren Wunden haben und zu überlegen, ob es eine mögliche Aussöhnung mit der Krankheit geben kann. Auch dies kann man mit vielen verschiedenen Methoden erreichen.
Ich bediene mich gerne der recht neuen verhaltenstherapeutischen Methode des „imagery rescripting and reprocessing“, bei der man in der Imagination mit dem Betroffenen in die schmerzhafte Szene aus der Vergangenheit eintaucht und diese umschreibt, um so eine Auflösung des Schmerzes zu erzielen. Darüber hinaus ist es wichtig zu schauen, was den Betroffenen früher und heute Freude gebracht hat, welche Momente für sie wertvoll sind. So ist es möglich, gemeinsam neue Ziele für sie zu finden.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen in der Erwachsenenpsychiatrie?
Die Zusammenarbeit zwischen Pflegefachkräften, Ärzt/-innen, Bewegungs- und Ergotherapeut/-innen und Psycholog/-innen ist ein essenzieller Faktor in der Versorgung von unsichtbaren Wunden. Wir alle arbeiten dabei Hand in Hand und begleiten die Patientinnen und Patienten auf ihrem Weg zu mehr Lebensqualität.
Jeder Berufsgruppe gelingt dies auf ihre eigene Art, und nur gemeinsam können wir unsere Erfolge erzielen. Deswegen ist ein ständiger Austausch im Team sehr wichtig, denn nicht nur der Umgang und die Methoden, die wir mit den Betroffenen anwenden, sind sehr unterschiedlich. Auch unser Verständnis bezüglich des Betroffenen ist durch die jeweilige Disziplin stark geprägt. Erst durch eine interdisziplinäre Betrachtung ergibt sich ein ganzheitliches Bild der psychisch kranken Person.
Wie hoch sind die Chancen, seelisch erkrankte Menschen vollständig zu heilen?
Dies ist eine sehr schwierige Frage. Ich denke, auch hier passt die Metapher der „Wunde“. Denn selbst wenn diese verheilt ist, bleibt eine sichtbare Narbe und wir erinnern uns vielleicht ab und zu noch an den Schmerz zurück. Mit den unsichtbaren Wunden verhält es sich ganz ähnlich. Ich bin überzeugt davon, dass man diese heilen kann, und zwar in der Hinsicht, dass sie kein Leid mehr erzeugen müssen. Aber eine gewisse Verletzlichkeit wird vermutlich an dieser Stelle der Seele bleiben.
Zur Person: Leonie Grundmann
Leonie Grundmann (30) ist Psychologische Psychotherapeutin in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Haina und dort seit 2017 tätig. Ihr Studium und die nachfolgende Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (VT) hat sie in Gießen absolviert. Aktuell durchläuft Leonie Grundmann zur Spezialisierung eine Weiterbildung in der Psychotraumatologie (DeGPT).